Über einen anderen Datenschutz

Datenschutz fußt auf gesellschaftlichem Fundament. Datenschutz vermittelt der Organisation was gesellschaftlich unerwünscht ist und inspiriert die Organisation zu Spielräumen jenseits dessen. Gesellschaftlicher Fortschritt, so gering er auch sei, kann erreicht werden. Oktroyierte der Datenschutz der Organisation das was vermeintlich gesellschaftlich wünschenswert wäre, so geriete das Individuum in Bedrängnis.

Poesie und Bürokratie

David Graebers Buch „Bürokratie – Die Utopie der Regeln“ lese ich mit zunehmendem Staunen, ist doch eine wichtiges Festsellung des Buches, daß Bürokratie überall existiert, mehr oder weniger sichtbar aber überall und im Zeitablauf sogar noch zugenommen hat. Sogenannte Deregulierungen sind nicht mehr als als das Verschieben von „Formularen und Regeln sowie Strafen bei Verstoß“ von staatlichen Organisationen in private Organisationen. Staunen deshalb, weil das Buch in der Tat den Blick dafür schärft. Die Beantragung eines Telephonanschlusses ist heute mit soviel Formularkram behaftet wie zu Zeiten des Staatsmonopols. Graeber differenziert die Form der Bürokratie an zwei Ausprägungen von Technologie, die er poetische und bürokratische Technologie nennt. Poetische Technologien bedienen sich bürokratischer Mittel um „überschäumende unrealistische Phantasien zum Leben zu erwecken“. Sie sind ambivalent. Bürokratischen Technologien transformieren „administrative Zwänge und Notwendigkeiten“ „von einem Mittel zu einem Zweck der technologischen Entwicklung“. Ticketsystem, Formularfelder, Einwilligungs- und Zustimmungsroutinen, CRM-Systeme u.v.m. stehen dafür. Eng verwoben mit den beiden Technologiebegriffen sind die Vorstellungen von Spielen (play) und Spiel (game). Das Spielen als ein Improvisieren ein kreatives Ausprobieren steht im Gegensatz zum Spiel, das „rein durch Regeln bestimmtes Handeln“ ist. Alles außerhalb des Spiels ist ohne Relevanz. Graeber erläutert, daß einerseits Spielen Spaß macht aber schnell zu Erschöpfung führt und andererseits das Einlassen auf ein Spiel Spaß und Freude schenkt.
Können Graebers Feststellungen zu Poesie und Bürokratie hilfreich sein um einen Ausblick auf das Internet der Dinge zu geben? Makerism und Tinkering scheinen Verfahren der poetischen Technologie zu sein. Wie führt dies aber zu entscheidenden technologischen Durchbrüchen zur Umsetzung phantastischer Ideen? Ein Bewegungssensor im Smart Home Bereich erinnert an bürokratische Technologien, kann aus der Vernetzung vieler Sensoren etws Einzigartiges entstehen? Fragen die offen bleiben müssen. Ein Einlassen auf Graebers Buch halte ich für richtig. Vorsichtige Hinweise jedenfalls können seine Erläuterungen sein.

Update 21.3.2016

Einen Sachverhalt sollte ich noch ergänzen. Graebers Überlegungen sind nicht dystopisch, sie machen Hoffnung. Denn er führt aus, daß eine „revolutionäre“ Situation und damit die Chance auf eine positive Veränderung jederzeit stattfinden kann. (In anderen Zusammanhängen und in einem anderen Bild wird das auch „Weißer Schwan“ genannt). Der zwangsläufige Weg in den „Untergang“ ist nach Graeber ein Mythos.

Der Entwickler ist sicher sehr stolz auf seine Software

Die veröffentlichte Meinung scheint klar zu sein: „kriminelle Energie“, „betrügerische Absicht“, „Gier“, mit diesen Schlagworten wird die VW-Manipulation charakterisiert. Allenthalben scheinen finstere Gestalten am Werk zu sein, das Böse scheint Wolfsburg fest im Griff zu haben. Mein erster Gedanke dazu ist: „Der Entwickler ist sicher sehr stolz auf seine Software“. Diese Software und ihr Einsatz in einem Fahrzeug sind nicht vom Himmel gefallen sondern die Software wurde von einem Menschen geschrieben, von einem anderen beauftragt und von einem dritten in die Produktion gebracht. Ein gemeinsames Handeln von Menschen, die sich wahrscheinlich keinerlei Gedanken um die Folgen ihres Tuns gemacht haben. Der Entwickler wird sehr stolz auf das Funktionieren der Software sein und die Ingenieure werden stolz auf das funktionierende Werkstück sein und alle zusammen werden denken, daß sie die tollsten Autos der Welt bauen und werden auch stolz darauf sein. Diese Gedankenlosigkeit, dieses mangelnde Urteilsvermögen, diese Unfähigkeit sich in Andere hineinzuversetzen sind keine ausschließlichen Merkmale von spezifischen Unternehmensmitarbeitern, sondern, ganz im Gegenteil, in allen Organisationen zu finden, ob in Unternehmen, Verwaltung, Politik oder Vereinen.

Zygmunt Bauman sieht in Organisation und Technik Adiaophorisierung angelegt. In Organisationen meint Adiaphorisierung, daß einerseits die Verantwortung für den Anderen an den Vorgesetzten abgegeben wird, andererseits hat sich die Verantwortung für den Anderen durch das auch in Organisationen allgemein herrschende neoliberale Diktum in eine „Mischung aus Verantwortung für sich selbst und Verantwortung sich selbst gegenüber“ gewandelt. So entsteht gerade in großen Unternehmen eine Zirkularität der Verantwortung sodaß sich letztendlich niemand wirklich verantwortlich fühlt. Es braucht also nicht einmal den Befehl von „ganz oben“ für die VW-Manipulation. Das bedeutet nicht, daß, falls es strafrechtliche Verstöße gibt, niemand dementsprechend zur Verantwortung gezogen werden kann, wer klaren Verstandes ist kann juristisch belangt werden, Dummheit schützt nicht vor Strafe. Ich finde allerdings, daß mit Behauptungen von „krimineller Energie“, „betrügerischer Absicht“ und „Gier“ sehr vorsichtig umgegangen werden sollte.

Die entscheidende Frage ist also ob, wie und welche Strukturen in Organisationen geschaffen werden könnten um solche Manipulationen möglichst gering zu halten. Eine Antwort darauf habe ich nicht, werde aber weiter darüber nachdenken.