Unglaublich schnell können manche Menschen lesen. Der Koalitionsvertrag der Ampel ist kaum veröffentlicht da tun die ersten Leute ihre Meinung zum Vertrag auf Twitter kund. Einhundertachtundsiebzig Seiten haben sie in Nullkommanichts gelesen, darüber nachgedacht, abgewogen. Faszinierend wie die eigenen Filtersysteme funktionieren; faszinierend wie eng die Gesichtskreise begrenzt sind…
Schlagwort: Twitter
Über Twitterlisten
Obwohl ich Listen in Twitter unnötig fand – die Beschäftigung damit würde Twitter zuviel Bedeutung zuschreiben – habe ich schließlich doch einen Set Listen eingerichtet. Die Listen sind themenspezifisch und auf privat gesetzt. Einige Listen konzentrieren Accounts und die Informationen weil das Thema relevant ist. Der Zugriff wird erleichtert. Andere Listen invisibilisieren Accounts und die Informationen weil das Thema zwar nicht unbedingt irrelevant ist aber spezifisch sehr viel Rauschen erzeugt. Das erleichtert das Lesen der Timeline ungemein. Ein Feature benutze ich schon länger für die Selbstsorge, das der stummgeschalteten Worte. Es ist hochwirksam…
Über den Balkonsitz
Es ist eine feine Sache mit einem kalten Bier auf dem Balkon zu sitzen und der Stadt zuzuschauen.
Über die lautlose Zeitumstellung
Die Zeitumstellung erfolgt lautlos. Keine stürmische Kommentierung in den Sozialen Netzwerken, keine Geständnisse des Unwohlseins, keine Klagsamkeit und keinerlei wirre Kosten-Nutzen Ergüsse sind zu lesen. Schweigen. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Beängstigendes. Die Wirklichkeit zeigt sich. Und wird mit der üblichen Mischung aus Verve und Nichtwissen begleitet.
Über eine Twittersperre
Twitter hat Kosmar gesperrt nachdem er 200 inaktiven Accounts entfolgt ist. Twitter sah dies als Bedrohung an. Das ist grotesk und zeigt die Maßlosigkeit von Automatisierung. Die Politik, das Unverständnis der Digitalisierung im politischen Betrieb, ist ursächlich daran beteiligt. Leider kann sich davon auch bis heute die Sozialdemokratie nicht freisprechen, ist das NetzDG ein Baby des ehemaligen Justizministers. Netzpolitische A**chtritte durch D64 sind nötiger denn je. Keine kosmaresquen Tweets mehr lesen zu können ist kein großes Kino von Twitter. Schämt und entschuldigt euch!
Über das „zu lang; nicht gelesen“
Das, was kurz sein soll ergießt sich als ungenießbarer Brei vor die Augen des entnervten Publikums: Nutzungsbedingungen, AGBs, Datenschutzerklärungen. Für das Publikum geschrieben wären sie kurz, einfach und klar. Sie sind aber von Juristen für Juristen geschrieben, die sich daran ergötzen, das Publikum liest sie nicht.
In den Sozialen Netzwerken ist Kürze Programm. Die Kürze bedingt teilweise Übles, Gemeines, Dummes.
Was kurz ist in der Literatur wie Miniatur, Fragment, Aphorismus, Essay oder Traktat, zeigt durch die Form besonderen Anspruch. Kleine Formen zu deuten benötigt Kontemplation. Kontemplation ist länglich.
Über das Surprenieren
Sprache kann überraschen, kann Rätsel aufgeben, gebiert Wohlklang. In einem Text über Leibniz wird folgendes wiedergegeben: Liselotte von der Pfalz schreibt in einem Brief an den Hannoverschen Oberstallmeister Christian Friedrich von Harling zum Tode von Gottfried Wilhelm Leibniz, dass sie der „schleunige tod von dem armen herrn von Leibniz surpreniert“ habe.
Surpreniert meint „überrascht“ und kommt von dem Alt-Französischen „sorprendre“.
Surprenieren ist ein wohlklingendes Wort, so aus der Welt gefallen und einfach schön. Es sollte mehr auf Twitter genutzt werden.
Über die Infallibilität der Artikelgruppe 29
Eine Juristin twittert, daß die Verlautbarungen der Artikelgruppe 29 nicht das letzte Wort seien, sondern wenn Aufsichtsbehörden die Verlautbarungen durchsetzen wollen, diese von einem Gericht geprüft werden können. Der Mitarbeiter einer Aufsichtsbehörde der Länder bezweifelt die Kompetenz und Zuständigkeit eines Gerichts. Die Mitglieder der Artikelgruppe seien „informatorisch und juristisch“ so weise (nicht sozialwissenschaftlich, nicht politisch, nicht philosophisch, also mehr oder weniger außerhalb der Welt, der Welt entrückt), daß sie also nur Erwägungen des letzten Wortes sprechen, sie sind unfehlbar – demiurgisch. Nein – unfehlbar sind sie sicher nicht und sie erschaffen auch sicher nicht die Welt. Ihre Verlautbarungen sind immer ideologisch. Deshalb ist Überprüfung richtig und wichtig. Und es wundert doch schon, daß Gewaltenteilung verneint wird. Das ist schlechte Praxis.
Über das Mogulieren
Heute wurde auf Twitter an die „Microblogging Conference 2009“ in Hamburg erinnert. indenti.ca, Twitter, Pownce, Jaiku und Plurk waren Inhalte der damaligen Diskussionen. Dazu gab es eine Vielzahl an Livestreamingdiensten wie z.B. Mogulus. Die Nutzung wurde als „Mogulieren“ bezeichnet. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Services ist Geschichte. Das Heute ist die Zeit der Öde, die Zeit der Riesenplattformen, die Zeit der Datenindustrie. Oder blüht da etwas Neues im Verborgenen?
Eurovisiondingens
Meine Twittertimeline ist überschwemmt von braungelb-dünnpfiffigen Herzchen zum Hashtag des ESC. Das schauen sehr, sehr viele Leute stelle ich fest. Gut – Pluralität und individueller Geschmack sind Sauerstoff für die offene Gesellschaft und damit auch Distanz. Somit auch meine Distanz zu dieser Veranstaltung, die immer noch das Muffige, das Piefige des vergangenen Jahrhunderts trägt als dort Schlagersänger Schnulzen auf deutsch vortrugen. Diese Musik muß ich nicht mögen. Aber hey – andere können die Musik toll finden, das gehört zum Leben dazu.